„Wo man herkommt, da ist man zu Hause“
Geschichte der Flucht einer ganzen Familie
Als ich meinen Mann 1960 kennenlernte, lebten wir in Kirchgandern bereits im Ausnahmezustand. Seit 1956 galten für alle Gebiete an der innerdeutschen Grenze verschärfte Anordnungen. Bereits in diesem Jahr galt die Republikflucht als Straftat, was bedeutete, dass auf Flüchtlinge ohne Vorwarnung geschossen werden durfte. Meine Familie versuchte dennoch einmal gemeinsam die Heimat in Kirchgandern zu verlassen. Da wir aber als auffällig große Gruppe von den Grenzsoldaten entdeckt worden wären und die Gefahr einer Verhaftung aller Familienmitglieder bestand, wagte schließlich nur ein Teil meiner Geschwister den Schritt durch den Wald über die Grenze. Nicht zuletzt wollte ich meinen Freund in Erfurt natürlich nicht im Stich lassen oder in den Wirren dieser Jahre verlieren.
Die Gerüchte um den Mauerbau verstärkten sich immer mehr, so dass wir den Entschluss fassten über Berlin zu fliehen. Am 4. Juli 1961 setzten wir unseren Plan in die Tat um und reisten mit dem Zug nach Berlin. Angekommen an einer der ersten Stationen in Westberlin verließen wir die U-Bahn. Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt in Berlin wurden wir schließlich mit zahlreichen anderen Flüchtlingen ausgeflogen. Hier trennten sich zunächst unsere Wege.
Mein Mann kam in das Flüchtlingsauffanglager nach Friedland, dass hauptsächlich von Männern bewohnt wurde. Für die Frauen war das Lager in Uelzen vorgesehen.
Wir hatten das Glück, nach einiger Zeit gemeinsam bei Verwandten in Hildesheim unterzukommen und hier schnell eine Arbeit zu finden, um allmählich auf eigenen Füßen stehen zu können. In der Zwischenzeit war auch meinen Eltern als letzte Familienmitglieder noch im November 1961 die Flucht gelungen. Diese hatten von einem aufmerksamen Kirchgänder erfahren, dass in Arenshausen bereits LKWs für die verdeckte Maßnahme „Kornblume“ bereit standen, um am nächsten Tag einige Familien aus Kirchgandern zu einer Aussiedlung zu zwingen. Nach einiger Zeit konnten schließlich alle Mitglieder meiner Familie wieder zusammentreffen und wir siedelten uns im Göttinger Raum an. Unser Heimatdorf von der „anderen Seite“ sehen zu können, war nicht immer einfach.
Beate Hanstein, Göttingen
August Wiesemüller, Angerstein
…nachgefragt:
Was war Ihr größter Wunsch während der Zeit des geteilten Deutschlands?
Vor unserer Flucht habe ich mir oft gewünscht einfach mal nach „drüben“ gehen zu können!
Haben Sie positive Erinnerungen an die DDR Zeit?
Wo man herkommt, da ist man zu Hause! Wir haben eine glückliche Kindheit in
Kirchgandern verbracht. Ich erinnere mich gern daran, wie wir mit allen Kindern des Dorfes
die tollsten und abenteuerlichsten Spiele gespielt haben.
Als die Mauer fiel, dachte ich …
Das ist das Beste, was jemals passieren konnte! Ich hörte mitten in der Nacht
ungewöhnlichen Lärm. Beim Blick auf die Göttinger Straßen sah ich ÜBERALL Trabbis! Das
war einfach nur eine riesige Freude!!! Bei der Kirmes in Kirchgandern feierten BGS-
Soldaten aus dem Westen gemeinsam mit DDR-Grenzern und wir hatten alle Tränen in den
Augen.