„Wohin werden wir gebracht?“
Eine zwangsevakuierte Familie zwischen Verzweiflung und BangenIch war 14 Jahre alt und konnte mir nicht vorstellen, meine Heimat zu verlassen und alles hinter mir zu lassen. Doch am 3. Oktober 1961 sollte genau das passieren. Gegen 6.30 Uhr weckte mich der Schrei meiner Oma. Ich dachte, einem meiner jüngeren Geschwister sei etwas passiert. Noch im Nachthemd stieß ich auf meinem Weg nach unten auf einen Volkspolizisten, der mich aufforderte, mich anzuziehen und nach unten in die Küche zu kommen. In der Zwischenzeit wurde mein Vater beim Arbeiten auf dem Feld abgefangen und nach Hause gebracht. Meine Mutter und Oma waren völlig aufgelöst.
Als die ganze Familie in der Küche versammelt war, verlas ein junger Leutnant ein Schreiben: „Im Zuge der Grenzsicherung werden Sie umgesiedelt…“. Meine Familie wurde damit Teil einer verdeckten Maßnahme, die später unter dem Namen „Kornblume“ bekannt wurde. Schon 1952 erlitten dieses Schicksal meine Großeltern in Siemerode, die dem Umsiedlungsvorhaben „Ungeziefer“ zum Opfer gefallen waren. Hauptsächlich mein Vater behielt in dieser Situation die Nerven und fragte, wohin wir denn sollen. Darauf wurde ihm jedoch vorerst keine Antwort gegeben. Danach ging alles sehr schnell. LKWs fuhren vor.
Wir hatten vier Stunden Zeit, um das, was wir mitnehmen wollten, aufzuladen. Die Kampftruppen, die als Verstärkung der Volksarmee z.B. bei inneren Unruhen eingesetzt wurden, verteilten sich im ganzen Haus und packten unser Hab und Gut auf den LKW. Nach Ablauf der Zeit mussten wir uns zu unserem „Gepäck“ auf die Ladefläche setzen und die Fahrzeugplanen wurden geschlossen. Mein Vater äußerte den Wunsch, wenigstens eine Plane offen zu lassen, um einen letzten Blick auf unsere Heimat werfen zu können. Alle hatten das Gefühl, sich doch noch verabschieden zu müssen.
Dieser Wunsch wurde jedoch nicht gestattet. Mit uns wurden zwei weitere Familien aus Kirchgandern und einige weitere aus dem gesamten Eichsfeld umgesiedelt. Nach einiger Zeit hielt der Wagen und die Fahrzeuge aus den verschiedenen Orten wurden zu Konvois zusammengestellt. Hier erfuhren wir zum ersten Mal, dass wir nun in den Landkreis Arnstadt fuhren. Nach einigen Fahrtunterbrechungen erreichten wir gegen Mitternacht Achelstädt bei Kranichfeld. Im Haus eines Geschwisterpaares wurden uns drei Zimmer zugeteilt. Die Soldaten der Kampftruppe stellten unsere Betten auf, alle anderen Möbel wurden in einer Scheune untergestellt. Am nächsten Morgen erwartete meine Eltern der ortsansässige LPG-Vorsitzende, um sie für die Arbeit einzuteilen. Er erklärte, dass wir ein Haus bekämen, das jedoch noch nicht fertig sei. Meine Eltern hatten nicht vor, der LPG beizutreten. Dennoch wurde er an diesem Tag für die Arbeit im Stall und meine Mutter in die Feldbaubrigade eingeteilt.
In meiner neuen Schule ließen mich meine neuen Mitschüler und Lehrer deutlich spüren, dass ihnen unser plötzliches Erscheinen hier sehr suspekt war und wir sicher etwas auf dem Kerbholz haben mussten. Als Katholiken wurden wir zusätzlich als äußerst exotisch betrachtet. Auch mein im Eichsfeld versprochener EOS-Platz wurde mir, wie alle bisherigen Entscheidungen, unbegründet verwehrt. Besonders schwer fiel es meinem Vater im nächsten Frühjahr, nicht wie sein ganzes bisheriges Leben zuvor, die Felder zu bestellen.
Nach Zeiten furchtbarer Wohnzustände borgte sich mein Vater schließlich Geld, um ein kleines Haus in Plaue zu kaufen. Nun konnten wir uns allmählich in unsere fremdbestimmte Heimat integrieren. Er trat in den Männerchor ein und leitete die Jugendkommission des Ortes. Nach meinem Schulabschluss erlernte ich nun zunächst den Beruf der Kinderkrankenschwester und holte das Abitur später nach. In all den Jahren verloren meine Eltern nie ihren Humor, wofür ich sie sehr bewunderte.
Selbstverständlich waren meine Eltern über die Wende sehr glücklich und der Entschluss, unser Haus in Kirchgandern zurückzugewinnen, stand schnell fest. Allerdings hatten die zwangsevakuierten Familien der DDR im Gegenteil zu den geflüchteten Familien zunächst keinerlei Ansprüche. Die Unrechtsbereinigungsgesetze und der unermüdliche Einsatz vieler Zwangsevakuierter führten dazu, dass uns 1997 unser früherer Besitz rechtmäßig zugesprochen wurde. Leider konnte mein Vater diese glückliche Wendung nicht mehr miterleben.
…nachgefragt:
Was war Ihr größter Wunsch während der Zeit des geteilten Deutschlands?
Dass die DDR-Bürger mit ihren Biographien im vereinten Deutschland nicht untergehen und ihr
neu gewonnenes Selbstgefühl nicht verlieren würden.
Haben Sie positive Erinnerungen an die DDR Zeit?
Positiv war für mich die Förderung von Kindern aus sozial geschwächter Herkunft, die nicht im
Zusammenhang mit ideologischem Denken stand.
Als die Mauer fiel, dachte ich …
Natürlich überwog im ersten Moment die Freude über die Freiheitsgefühle und die Möglichkeit
der Bewegung ohne Angst. Dennoch wagte man die ersten Schritte in den Westen mit einer
gewissen Vorsicht. Schließlich war ich erschrocken, als mir zum ersten Mal das Ausmaß des
Mauerkonstrukts bewusst wurde.